Der Mediävistenverband verlieh auf dem Symposium in Würzburg den Dissertationspreis an Jan Glück für seine Arbeit „Animal homificans. Normativität von Natur und Autorisierung des Politischen in der europäischen Tierepik des Mittelalters“.
Auszüge aus den Laudationes auf den diesjährigen Preisträger:
„Die methodische Relevanz und Originalität des Ansatzes wie der inhaltlichen Fragestellung der Dissertation von Jan Glück sind ausgesprochen hoch. Denn anders als bisherige Untersuchungen zur Tierepik im Mittelalter, die vor allem von einem metaphorischen Gehalt der Tierepen bzw. -fabeln ausgehen und nicht nach dem in dieser Literaturgattung verhandelten Mensch-Tier-Natur-Verhältnis fragen, rückt der Verfasser genau diese Frage in den Mittelpunkt. Er präpariert dabei anhand der Texte überzeugend einen politisch-ethischen Diskurs heraus, der etwa in Anknüpfung an Johannes von Salisbury oder Thomas von Aquin sowie die Aristoteles-Rezeption des 13. Jh.s nach dem Verhältnis und der Vorbildlichkeit naturgegebener Verhaltens- und Ordnungssysteme (wie z.B. des Bienenvolks oder der Wolfs- oder Löwenrudel) für die Organisation der menschlichen Gesellschaft und der Sphäre des Politischen fragt. Statt einer nur metaphorischen hat die Natur- und Tierwelt in den Epen daher eher eine komparatistische Funktion, bei der auch die Gemeinsamkeiten und Grenzen der Vergleichbarkeit von Mensch und Tier durchgespielt und diskutiert werden.
Dieser methodische Zugriff und seine im Grundsatz durchaus überraschenden Erkenntnisse besitzen nicht nur für das Verständnis der mittelalterlichen Tierepik eine fundamentale Bedeutung, sondern ermöglichen auch für unsere Gegenwart und ihre entlang von Klima, Ökologie und Tierethik geführten Debatten interessante und aufschlussreiche Impulse aus der Vormoderne. Deutlich wird durch die vorliegende Dissertation, dass weniger das Mittelalter, als vielmehr die Neuzeit, Aufklärung und Moderne zur strikten, ja radikalen Trennung zwischen Mensch und Tier bzw. zwischen Mensch und Natur geführt haben, da der neuzeitliche Wissenschaftsbegriff für jene kategoriale Grenzziehung gesorgt hat, die uns heute – nicht zuletzt im Zeichen von Klimawandel, Tierwohl und Artensterben – nachdrücklich beschäftigt. Die Hinterfragung dieser Grenze bedeutet jedoch keineswegs ihre vollkommene Aufhebung, wie es etwa derzeit in den Human Animal Studies geschieht, sondern die aus den mittelalterlichen Tierepen herausgearbeitete dialektische Auseinandersetzung mit der Natur und politischen Ordnung des Menschen als eines einerseits mit der Natur und dem Tier verbundenen und andererseits über ihre Verfasstheit hinausragenden bzw. sich abgrenzenden Lebewesens. […]“
Matthias Müller, fachferne Laudatio
„Bei der nominierten Arbeit handelt es sich um eine äußerst anregende und methodisch anspruchsvolle Studie, die insbesondere auch in interdisziplinärer Hinsicht innovativ und erkenntnisreich ist und zugleich durch einen eloquenten, angenehm klaren Duktus besticht. Die Verbindung eines vorbildlich fundiert philologischen Arbeitens mit einer kulturhistorisch relevanten Perspektivierung und Fragestellung ist gelungen. Mein Urteil nehme ich daher gleich vorweg: Die Dissertation von Jan Glück ist uneingeschränkt preiswürdig.
Der originelle Ansatz dieser Arbeit ist es, der europäischen (!) Tierepik des Mittelalters in ihrer bisher unterschätzten Funktion einer argumentativen Wissensvermittlung des Politischen nachzuspüren. Erschlossen werden so neue vormoderne, genuin literarische Wissensquellen für die Fragen politischer und sozialer Ordnungsvorstellungen im Zusammenhang einer Normativität von Natur. Die Arbeit regt im besten Sinne dazu an, alte Denkgewohnheiten (der Forschung) aufzubrechen und neue Impulse für die Erforschung der tierepischen Erzählverfahren anzusetzen. Das liegt unter anderem daran, dass die Fragen nach literatur- und philosophiehistorischen (politischen) Entwicklungen jenseits des (altgermanistischen) Literaturkanons und jenseits der bekannten politiktheoretischen ‚Klassiker‘ im Mittelpunkt stehen. Einer der zahlreichen Leitfäden, die die Studie durchziehen, ist die Reflexion der Rezeptionsgeschichte der Politik des Aristoteles bzw. des ‚politischen Aristotelismus‘. So vermag der Blick auf die Formen politischer Argumentation und ihrer Autorisierung in Auseinandersetzung mit der Normativität von Natur eine neue Perspektive auf die Tierepik zu entwerfen.
Der Arbeit liegt eine interessante Auswahl an lateinischen, mittelhochdeutschen, französischen, italienischen und katalanischen Quellentexten zugrunde: Ausgehend von den ersten lateinischen tierepischen Erzählungen des 11. und 12. Jahrhunderts bis hin zu Ramon Lulls katalanischem Llibre de les bèsties aus dem 13. Jahrhundert. Erschlossen werden so auch neue Textwelten, die bislang nur vereinzelt im Fokus der (deutschsprachigen) Forschung standen. Der mittelhochdeutsche ‚Klassiker‘ unter den Tierepen, der Reinhart Fuchs, erfährt wiederum eine neue Kontextualisierung. Neben den Forschungsansätzen aus den Bereichen der Literaturwissenschaft, Philosophiegeschichte, Politiktheorie und Soziologie werden auch Lektüremodelle der Human-Animal-Studies (mitunter angemessen kritisch) einbezogen. […]
Kurzum: Für die mediävistische Forschung ist dieser impulssetzende, da originelle Forschungsansatz ein wirklicher Gewinn. Die vorliegende Arbeit kann zur Sichtbarkeit der europäischen Tierepik mitsamt ihrer Aussagekraft für Themen der Philosophie- und Politikgeschichte beitragen und verdient es daher, auf ein breites, interdisziplinäres Interesse und Echo zu stoßen. Ich kann diese Arbeit daher mit großem Nachdruck für den Dissertationspreis empfehlen.“
Christiane Witthöft, fachnahe Laudatio