CfP: 39. Kölner Mediävistentagung: Schüler und Meister
Diese Tagung findet vom 9.-12. September 2014 statt.
„Alles vernünftige Lehren und Lernen geschieht aus einer vorangehenden Erkenntnis“ – dieser berühmte Eröffnungssatz der Aristotelischen Analytica posteriora gilt nicht nur für die Wissenschaften im engeren Sinne, sondern für jede auf Erfahrung und Expertise beruhende Tätigkeit, die sich nicht der Natur, sondern der „techne“, der menschlichen Kunstfertigkeit im weitesten Sinne verdankt. Eine jede Kunstfertigkeit, gleich ob sie auf ein äußeres Objekt, einen durch Kunstfertigkeit hervorgebrachten Gegenstand bezogen ist oder in einer bestimmten praktischen oder theoretischen Fähigkeit selbst besteht, muß erlernt werden. Dies gilt unabhängig von Lebensalter und Lebenserfahrung. Insofern ist das Schülersein ein Existential des Menschen. Ein Meister hingegen ist derjenige, der nicht nur über Erfahrung, Expertise und Wissen verfügt, sondern dieses auch vermitteln kann. Er kennt nicht nur den betreffenden Sachverhalt, sondern verfügt über ein methodisches Wissen, das die Voraussetzung für die Vermittlung der eigenen Expertise bildet. Damit ist das Schüler-Lehrer-Verhältnis ein elementarer Bestandteil jeder höheren Kultur und ein Schlüssel zum Verständnis aller kulturell vermittelten Fertigkeiten und alles kulturell codierten Wissens.
Die Grundlage dieser zentralen Relation kultureller Kompetenz- und Wissensvermittlung bildet jedoch die persönliche Erfahrung der beteiligten Träger: d.h. primär der Schüler und Meister selbst, sodann auch der jeweiligen Institutionen. Dem Niederschlag dieser Erfahrung in ihren verschiedenen Facetten in der lateinischen und griechisch-byzantinisch, in der arabischen und hebräischen Tradition, in der Laien- und der Gelehrtenwelt, aber auch in der Alltagskultur nachzugehen und die vielfältigen Bedingungen des Lehrens und Lernens zu untersuchen, rückt ein Thema in den Mittelpunkt, das oftmals nur beiläufig und instrumentell behandelt wird, etwa im Zusammenhang biographischer oder doktrinärer Fragen, oder als Geschichte von Lehrinstitutionen.
Die 39. Kölner Mediaevistentagung möchte daher die Schüler-Meister-Relation zum Ausgangspunkt nehmen und über die Sprach- und Kulturkreise hinweg nach den individuellen Lebensformen und sozialen Kontexten, nach den diskursiven Praktiken und epistemologischen Implikationen, sowie nach den institutionellen Voraussetzungen und dem gesellschaftlichen Rollenverständnis fragen. Wo gibt es Kontinuitäten, wo gemeinsame Bezugspunkte – etwa im Ausgang von spätantiken Modellen und Traditionen? Wo halten sich diese durch, wo entstehen in der Folge des Zusammentreffens antiker Traditionen mit den fortan die Kultur bestimmenden Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam neue Formen und Verständnisweisen im Verhältnis von Lehrer und Schüler? – Exemplarisch seien im
folgenden einige Fragestellungen und Themenkreise benannt, ohne daß damit ein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden ist.
1) Zu fragen ist nach einer Typologie der Schüler-Meister-Beziehungen: von handwerklicher Praxis über die theoretische und wissenschaftliche Expertise bis hin zur spirituellen Meisterschaft. Ein wichtiger Ausgangspunkt ist die Terminologie. Auf der einen Seite steht der Schüler, Novize, Lehrling, Student, talmid ḥaḵam, ṭālib, etc.. Doch noch facettenreicher als der Begriff des Schülers ist derjenige des Meisters: als magister operis in der Bauhütte wie als Magister und Lehrer in Schule und Universität, als Lese- und Lebemeister, als Rabbi und moreh, ʾustāḏ, muʾallim, ʿālim, etc. Wie und von wem werden diese Fachbegriffe geprägt? Wie werden sie von einer in die andere Sprache übersetzt? Kommt es hierbei auch zu einem Austausch im Rollen- und Selbstverständnis?
2) Eine zentrale Rolle für den Schüler-Meister-Diskurs spielen die verschiedenen Diskursformen. Zu nennen sind zum einen die verschiedenen Schulformen wie universitas, madrasa, yešivah, und diesen korrespondierende Unterrichtsformen wie lectio, disputatio, pilpul, etc. Ferner ist der private Unterricht zu nennen, der insbesondere für die Philosophie von Bedeutung ist. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die literarische Form des Schüler-Meister-Dialogs, bei dem der Schüler oftmals der Initator des Lehrgesprächs ist. Was ist Gegenstand solcher Lehrgespräche und wie sind diese literarisch konzipiert?
3) Schüler und Lehrer wirken als gemeinsame, aber nicht immer einsinnige Teilhaber an einer Wissenschaft oder Kunst. Häufig wird dieses Thema auf die (inhaltliche) Abhängigkeit des Schülers von seinem Meister reduziert, auf Aspekte seiner Weiterentwicklung im Hinblick auf den Lehrer und auf Fragen der Kontinuität bzw. Emanzipation und Eigenständigkeit vom Wissen und Denken des Lehrers. Doch wie verhält es sich umgekehrt? Inwiefern entwickeln Gelehrte in der Diskussion mit ihren Studenten das eigene Wissen und die dazugehörigen Theorien weiter? Wir wissen von nicht wenigen Werken, die Lehrer explizit auf Bitten ihrer Schüler geschrieben haben. Was geschieht mit dem wissenschaftlichen Erbe eines Meisters? In der Regel sind es die Schüler, die – so es noch nicht geschehen ist – sein Schrifttum verbreiten und – wenn nötig – „unfertige“ Texte redigieren und nicht selten ergänzen und damit erst zugänglich machen. In diesen Kontext fallen auch reportationes, die Fragen der Autorenschaft aufwerfen. Wie weit ist es möglich, die Beiträge von Lehrer und Schüler zu trennen? Andererseits gibt es den abtrünnigen Schüler oder Dissidenten, der seine eigene Lehre als Reaktion auf und in Abgrenzung von seinem Meister entwickelt.
4) Doch wodurch kann der Lehrer überhaupt Wissen vermitteln? Das Lehrer-Schüler- Verhältnis wirft auch epistemologische Fragen auf, die seit den platonischen Dialogen in der Philosophie diskutiert werden. Hat der Lehrer eher eine Anregungs- und Erinnerungsfunktion oder übt er Techniken der Wissenserzeugung ein? Was wird beim Lehren überhaupt vermittelt und was ist der Status von Gelerntem im Gegensatz zu selbst erschlossenem Wissen? Welche Eigenschaften müssen Schüler und Lehrer haben? – dies ist ein klassische Frage in allen Einleitungsschriften.
5) Eine besondere Aufmerksamkeit soll dem akademischen Milieu gelten: an Kathedralschulen, Universitäten, madāris (Medressen), etc. Wie findet ein Meister seine Schüler und umgekehrt? Von Bedeutung sind hier die Etappen des akademischen Bildungsganges wie Prüfung, Examen, Lehrerlaubnis, Erlaubnis zu praktizieren, Ordination. Wer hat Zugang zu einer akademischen Ausbildung und welche Möglichkeiten gibt es abseits der etablierten Bildungswege? Wie werden konkurrierende Ansprüche zwischen Lehrern, Schulen oder religiösen und weltlichen Autoritäten gelöst?
6) Neben dem akademischen Milieu bestehen unzählige Institutionen organisierter Wissensweitergabe: Gilden und Zünfte, Monasterien, Klostergemeinschaften und Werkstätten. Wie ist die Beziehung der Novizen zu ihren Meistern? Zu fragen ist sowohl nach dem Selbstverständnis von Schüler und Meister wie auch der Art der Ausbildung. Erfolgt die Weitergabe allein durch mündliche Überlieferung und die Weitergabe praktischer Fähigkeiten? Welche Bedeutung spielen hier schriftliche Vorlagen (Rezeptsammlungen, Anleitungen, Musterbücher)? Mit Bezug auf Ordensgemeinschaften ist ferner nach dem Verhältnis von tätiger, geistiger und geistliche Ausbildung zueinander zu fragen.
7) Das Schüler-Meister-Verhältnis betrifft die verschiedenen Formen von erfahrungsbezogener, kunsthandwerklicher und wissenschaftlicher Meisterschaft und ihre mögliche Verbindung untereinander. Daraus ergeben sich interessante epistemologische Fragen, die den Zusammenhang von experientia, ars und scientia ebenso betreffen wie das Verhältnis von Praxis und Poiesis, von theoretischem und praktischen Wissen. Entspricht hierbei der „ordo addiscendi“ dem „ordo artium et scientiarum“ oder besitzt das Lehren und Lernen eine Eigengesetzlichkeit?
8) Zur Sprache kommen sollen auch Grenzfragen. Kann etwa ein Mensch Lehrer seiner selbst sein? Der Prototypus hierfür ist der Autodidakt. Welche Rolle spielen „Lehrer“, die nicht im unmittelbaren Verständnis in den Lernvorgang involviert zu sein scheinen: etwa Aristoteles als „erster Lehrer“ (al-muʾallim al-ʾawwal) oder Christus als „innerer Lehrmeister“?
9) Aus prosopographischer Perspektive soll von berühmten und weniger berühmten Schüler-Meister-/Lehrerbeziehungen die Rede sein. Der Topos „große Meister“ / „kleine Meister“ verweist auf ein wachsendes Bewußtsein individueller Meisterschaft. Die Prominenz von Schulen und Lehreinrichtungen hängt an dem Bekanntheitsgrad ihrer Lehrer. Doch das Verhältnis vor allem bedeutender Schüler zu ihren Meistern ist nicht selten spannungsvoll, auch wenn jene sich respektvoll auf diese beziehen. Für Schulbildungen sind derartige affirmative oder abweisende Bezugnahmen auf einen Meister konstitutiv.
10) Faßt man Lehren und Lernen als einen Überlieferungsvorgang, so markieren Schüler-Meister-Beziehungen darin eine besonders vielschichtige Form der translatio von Erfahrung, Expertise und Wissen über Zeit- und Kulturräume hinweg. Wie aber steht es mit der Vermittlung von Kompetenzen über kulturelle Grenzen hinweg. Gibt es Schüler- Lehrerbeziehungen über Sprach-, Kultur- und Religionsgrenzen hinweg? Was sind die
Voraussetzungen für das Gelingen solcher interkultureller Lehr- und Lernbeziehungen, was wird vermittelt und wo liegen die Grenzen?
Im Fokus steht die unterschiedliche Weitergabe spätantiken Wissens in den unterschiedlichen Kulturräumen wie auch seine Rezeption und Transformation während eines Millenium, das erst ex post als Mittelalter qualifiziert wird. Doch besteht die darin implizierte Differenz wirklich oder muß man nicht eher von einer Kontinuität ausgehen, die auch über das postulierte Ende des Mittelalters in der Neuzeit weiterwirkt? Wie stets strebt die Kölner Mediaevistentagung eine möglichst große interdisziplinäre Bandbreite an. Daher laden wir Philosophen und Theologen, Historiker und Philologen, Literaturwissenschaftler und Kulturwissenschaftler, Kunst- und Wissenschaftshistoriker, etc. ein, sich mit einer Fragestellung aus ihrem Fachbereich oder mit einer interdisziplinären Problemstellung an der 39. Kölner Mediaevistentagung zu beteiligen. Unser Ziel ist es, neue Perspektiven zu eröffnen, Sehgewohnheiten in Frage zu stellen und zu überdenken. Hierbei ist der größere Zusammenhang ebenso gefragt wie das mikrologische Detail, die Kontinuität wie die Diskursverzweigung. Hier gilt es auch den Blick zu weiten über ein enges hermeneutisches Textverständnis hinaus auf den Bereich materialer, medialer und symbolischer Kommunikationsformen, wie sie in Ritualen, in Ikonographien oder in konkreten Gegenständen ihren Ausdruck finden.
Ich möchte mit der Bitte schließen, uns Ihre Vorschläge nach Möglichkeit bis zum 15. August 2013 zuzusenden (thomas-institut@uni-koeln.de), und würde mich freuen, Sie im kommenden Jahr zur 39. Kölner Mediaevistentagung begrüßen zu können. Bitte leiten Sie diese Einladung gerne auch an Kolleginnen und Kollegen weiter, die noch nicht in unserer Adressendatei stehen oder lassen Sie uns die Adresse möglicher Interessenten zukommen. Herzlichen Dank!
In der Erwartung Ihrer Vorschläge verbleibe ich mit den besten Grüßen,
Köln, 1. März 2013
Andreas Speer